Trauerbilder II
1997 begegnete auch ich dem Autor und Gründer des Kindler Verlags und konnte mich ihm nie mehr entziehen.
Daß ein fast 85jähriger Mann mit einem riesigen Leben gegenüber einer ihm völlig unbekannten Frau Heiratsabsichten haben könnte, lag mir fern zu denken, und so bildete ich mir ein, sein Besuch gelte dem weißen Atelier mit den vielen Bildern von Carl Lambertz und mir.
Helmut Kindler kam nach Groß Wittensee und wußte, was er wollte. Mich. Er kannte mich so gut wie nicht. Natürlich, meine Stimme und Sprache vom Telefon, meine Handschrift von einer Karte mit dem Bild der »Herzdame«, das ich gemalt hatte. Und damit kannte er mich ganz genau. Seine Sorge, ich könnte vielleicht zwei Zentner wiegen, entkräfteten meine damals 55 kg. Ein Foto von mir hatte er nicht. Stark war die Kraft der Vorstellung. Ich hatte seine Autobiographie gelesen – meine Bewunderung und Verehrung waren ihm sicher -, ihn im Fernsehen gesehen, kannte auch seine Stimme von den Telefonaten, war angetan und freute mich auf sein Kommen. …
Mehr unbewußt nahm ich wahr, als Helmut Kindler mir einen, farblich zum Atelier passend, superweißen, opulenten Blumenstrauß und Champagnertrüffel von Sprüngli überreichte, daß es ein Hochzeitsstrauß war. Daß ich meiner zweiten Ganzgroßenliebe in meinem Leben, meinem zukünftigen Traum- und Ehemann gegenüberstand, ahnte ich noch nicht, und daß er, der dreißig Jahre Ältere, mir sieben Jahre später schreiben würde: „Noch nie habe ich eine Frau so geliebt wie Dich …“, hat auch er sich sicherlich nicht ausgemalt. …
Während unserer gemeinsamen Zeit, schon vor der Hochzeit, gab es schöne Erlebnisse, Ereignisse: Helmut Kindler las und erzählte, stellte mich vor, ich bekam Blumen. In Schleswig-Holstein begleitete ich seine Lesungen mit meinen Bildern. Eine passende Kombination. Es machte allen Freude. Wir waren stolz aufeinander. …
Wir blieben glücklich, um die Wermutstropfen wissend, die es am Ende zu schlucken galt, bis am 15. September 2008 der Kelch leer war. Durch eine Bronchitis, die die versiegende Lebenskraft meines Mannes nicht abwehren konnte, wurde unsere Ehe beendet.
Von gegenseitiger Liebe überschwemmt, war er beinahe 96 Jahre alt geworden. Mitte 2001 äußerte er: „Ich hoffe, dank Marias Liebe, sagen wir mal, meinen 95. Geburtstag noch zu erleben.“ Ich hätte mir den 100. gewünscht. Seine Absicht, ein Buch mit dem Titel „Liebe einst – Liebe jetzt“ zu schreiben, konnte Helmut Kindler, mein Jahrhundertmann, ein Naturereignis, nicht verwirklichen, auch nicht die Weiterführung seiner Autobiographie mit dem Titel „Fortsetzung“. …
Ich danke Helmut Kindler, meinem zweiten Mann, meinem Methusalem, daß sein Uralter in Liebe er mir schenkte, die Jahre, die Carl Lambertz, mein erster Mann, mir nicht konnte geben. In grenzenloser Freiheit und Unendlichkeit die Seelen sich befinden. Kann ich das erfühlen?
ALLES HAT SEINE ZEIT: Der eine nicht ohne den anderen. Wir bekamen voneinander, was wir brauchten, als ganz großes Geschenk das Herz dazu. Helmut Kindler gerne mein Hilfsarbeiter war, Zulieferer, Berater, wie er zu sagen pflegte, eine dienende Rolle, die immer er schon hatte, genau wie ich. Als längst seinen alten Handstock wieder er benutzte, und meinen Arm als Stütze, wuchsen wir untergehakt, auch optisch, mehr und mehr zusammen. Nichts Unmögliches von uns verlangten wir, weshalb das Leben uns gelang. Eine Himmelsgabe, Diener zu sein.
Maria Kindler-Reese
Auszüge aus: Allgegenwärtig, 2009, S. 8, 10 f, 19 f, 23.