Ein Heldenepos

Ein Heldenepos

Saint-Nazaire

Es kam die Zeit, wo man an vielen Geschehnissen merkte, daß der Krieg für die Nazis schwieriger wurde, gewaltige Menschenopfer forderte und nicht mehr zu gewinnen war.

Kapitän Mecke wurde zur Küsten- und Kriegshafenstadt Saint-Nazaire in Frankreich kommandiert. Kaum war er da, kamen die Engländer mit Schnellbooten und Zerstörern in die Anlagen des Kriegshafens und in das umliegende Gebiet.

Es muß eine schreckliche Schlacht gewesen sein. Kapitän Mecke wurde als Sieger gefeiert. Er forderte mich auf, nach Saint-Nazaire zu kommen und diese Schlacht zu malen. So fuhr ich als Obergefreiter mit Malmaterial und Zeichenstiften nach Saint-Nazaire.

Auch hier wieder das gleiche Ritual wie in Eckernförde. Ich fühlte mich als Hofmaler und vollkommen deplaziert. Ich wurde von manchem Unteroffizier angeranzt: „Wenn Sie denken, daß Sie etwas Besonderes sind, so irren Sie sich sehr!“

In der O-Messe residierte wie in Eckernförde Kapitän Mecke, und man merkte ihm an, daß er sich als Sieger einer Schlacht fühlte. Hier gab es noch mehr U-Boot-Offiziere als in Eckernförde, denen ich anzusehen glaubte, daß es für sie keine Wiederkehr gab. Ihre U-Boot-Nester, viele Meter dicke Betonmauern und -decken, waren zum Atlantik hin geöffnet.

Das Essen in der O-Messe war sehr französisch. Als Bedienung waren auch Französinnen dabei. Auf den Tellern lagen große, rote Hummer, die ich nicht mochte, mit entsprechenden Beilagen – klitzekleine Frühkartoffeln mit der Schale gebraten. Kapitän Mecke deutete auf die Serviererin und sagte über den Tisch hinweg zu mir: „Ist sie nicht hübsch und voller Anmut? Eine echte Französin. Da muß ihr Malerauge sich doch freuen.“ Ich dachte, sie würde in ein Bild von Renoir passen.

Kapitän Mecke erklärte mir die Landung der Engländer im Kriegshafen und den Kampf. Die Annäherung hatte man kaum bemerkt, sie waren plötzlich da. Als Mecke mir dieses Inferno schilderte, hatte ich schreckliche Kopfschmerzen, so als ob das Feuer und die Explosionen in meinem Kopf stattfänden. Trotzdem mußte ich ihm genau zuhören, um mir ein Bild zu machen. Ich fühlte mich mißbraucht als Kriegsberichterstatter.

Er erzählte mir grausame Einzelheiten. Die Marineartillerie dort – ähnlich kriegsunerfahren wie in Eckernförde – war bei der Landung der Engländer total verwirrt. Die Soldaten schossen auf alles, was sich bewegte, verletzten und töteten sich oft gegenseitig.

Im Gewirr der Hafenanlagen richteten die Engländer mit ihren Haftbomben großen Schaden an. Ein alter englischer Zerstörer kam bis tief in die Schleusenanlagen hinein und zertrümmerte ein Schleusentor. Dieser Zerstörer wurde nach der Schlacht ein Besichtigungsobjekt für deutsche Offiziere und Soldaten. So befanden sich Hunderte von deutschen Marinesoldaten auf diesem Schiff, als es explodierte. Es war eine Zeitbombe, von den Engländern angebracht. Nach Wochen fischte man immer noch die Leichen aus dem Atlantik. Sie lagen weiß und verquollen auf den Rampen des Kriegshafens.

Der Rückzug war wohl für die Engländer das schwierigste Problem. Jetzt schössen die Deutschen mit ihrer Flak die englischen Boote in Brand. Es muß die Hölle gewesen sein.

Ein Tommy hatte sich aus den Flammen in Todesangst bis zur höchsten Spitze des Mastes gerettet, wurde aber doch – was nicht nötig war – in der Erregung abgeschossen. Aus dieser Episode machte ich eine Kohlezeichnung. Auf der Darstellung war er eine Kreatur geworden, die in schrecklicher Todesnot war – und kein Feind mehr.

Nach den Angaben von Kapitän Mecke und anderen Soldaten fertigte ich viele Skizzen an, die dann später in Eckernförde zu einem großen heroischen Schinken verarbeitet werden sollten. Diese Art, den Krieg zu verherrlichen, lag mir überhaupt nicht.

Nach Eckernförde zurückgekehrt, kaufte ich die größte Sperrholzplatte, die ich bekommen konnte, grundierte sie und bereitete den Malgrund für das „Heldenepos“ vor. Im Zeichensaal der Jungmannschule in Eckernförde habe ich angefangen, das Bild zu malen. Weil ein Zeichenlehrer fehlte, gab ich zu dieser Zeit auch Unterricht in Kunst.

Schüler und Schülerinnen aus jener Zeit besuchten mich später öfter in meinem Atelier. Sie begrüßten mich meistens mit den Worten: „Sie waren damals mein Zeichenlehrer. Ich weiß noch genau, Sie malten an einem großen Bild, der Schlacht von Saint-Nazaire. Meistens machten Sie mit den Händen und Armen große Gebärden dazu. Ihre Stimme bekam dann oft einen patriotischen Unterton.“

Ich konnte nicht unterscheiden, ob dies noch patriotische Reste von damals waren oder ob sie mir mit dieser Erinnerung eine Freude machen wollten.

Obwohl de Poel seine Fähnchen an der Ostfront weiter nach Westen steckte, schob sich das Ende des Krieges doch dramatisch mit hohen Verlusten hinaus. Ich hoffte im geheimen, dieses Bild nicht fertig malen zu müssen, und begann die Arbeit lustlos mit vielen Kunstpausen. Aber Kapitän Mecke erhielt das Ritterkreuz und ließ melden, daß er in Kürze nach Eckernförde käme, um sich und seine militärischen Leistungen in der Schlacht von Saint-Nazaire in einem heroischen Gemälde wiederzufinden.

Im Vordergrund eine große Figur, ein verzweifelt kämpfender Soldat. Dieser Soldat kam mir vor wie ein Selbstbildnis, gegen das eigene Bild kämpfend. Im Hintergrund das Inferno der brennenden Hafenanlagen und der englischen Schnellboote, und dazwischen vor dem Rot der Flammen silhouettenartig dunkle Kampfszenen.

Nun brauchte ich ein Modell für die Hauptfigur. Ein junger Soldat wurde mir dafür zugeteilt. Das Unsoldatische, das ich aus Erkenntnis in mir hatte, zeigte sich bei ihm in einer hölzernen Bewegungslosigkeit.

Überhaupt war ich in einem schrecklichen Dilemma. Ich war als Wehrunwürdiger wehrwürdig gemacht worden von diesen bürokratischen Inquisitoren, deren Gestapobespitzelung mich zu dieser Zeit noch in Angst hielt und die die Mörder meiner geliebten Freunde waren. Ich dachte auch an die vielen Leiden in den Gefängnissen und Konzentrationslagern und an die, die hingerichtet wurden, nur weil sie den Krieg verhindern wollten, und nun sollte ich mit diesem Bild auch noch diesen Krieg, das Menschenschlachten der Nazis, glorifizieren.

Ich wußte, daß ich jetzt etwas malen mußte, und zwar schnell. Mein hölzernes, unsoldatisches Modell trieb mich zur Verzweiflung. Mein künstlerischer Ehrgeiz, mein Selbsterhaltungstrieb und die Achtung vor Kapitän Mecke wurden zur Triebkraft, das Bild doch zu malen. Jetzt war ich selbst in die Situation geraten, weswegen ich Kollegen verachtet hatte, die für die Nazis Bilder malten.

In dieser letzten Phase des Krieges, in der viele allmählich merkten, daß Deutschland verlor, herrschten Angst, Haß, Unvernunft und gegenseitiges Mißtrauen, als ob man in dieser Endphase Schuldige finden müßte. Wehe dem, der seinen Pessimismus zu laut offenbarte!

Ich untermalte das Bild in großen, farbigen Flächen und zeichnete mit Holzkohle die Figur und das dramatische Geschehen in die nasse Ölfarbe hinein.

Während meiner Arbeit befand ich mich in einem schlechten Zustand, den ich keinem Militärarzt anvertrauen durfte. Ich hatte wieder einen fiebernden, schmerzenden Kopf, dachte an Harald und wünschte, er könnte mir helfen.

Ich malte gerade den Schatten des Helms auf der Stirn des kämpfenden Soldaten. Ich mußte den Arm recht hochheben, um den Pinsel mit gebrannter Umbra anzusetzen. Da erhielt ich zwei mächtige Schläge – wie Stromschläge – auf beide Hände. Zuerst flog der Pinsel aus meiner rechten Hand im Bogen davon, und dann fiel aus der linken die Palette vor meine Füße auf den Boden.

Ich hob die Palette auf, und die weiche Ölfarbe, gemischt mit dem Öl aus dem Palettstecher, hatte sich wie zu einer Monotypie auf dem Fußboden ausgebreitet. Die Farben ergaben das Bild eines zerquetschten, braunen Käfers, der auf dem Rücken lag und im blendenden Licht des Zeichensaales, im Glanz der schimmernden Lache des Leinöls, noch mit den Beinen strampelte. Ich dachte: Putz das nicht weg, laß es als Menetekel stehen. Und so lag das fiese Untier noch lange Zeit sichtbar auf dem Boden des Zeichensaales der Jungmannschule in Eckernförde.

Kinderwindrad

Ich zeigte den Schülern, wie man Aquarellfarbe mit viel Wasser im Pinsel verlaufen lassen kann, von kräftigster Farbigkeit bis zur zartesten Duftigkeit. Da rief mich eine zaghafte Jungenstimme: „Herr Lambertz!“ Er sagte nichts, zeigte aber mit dem Finger auf das große Bild.

Der kämpfende Soldat im Vordergrund, der mit der rechten Hand eine Handgranate schleudern sollte, hielt nun ein kleines Kinderwindrad, das sich beim Laufen oder Anblasen im Wind dreht, in der Hand. Die Flügel hatten die Farben der schleswig-holsteinischen Fahne: Blau-Weiß-Rot. Dieses Rad war flott und gekonnt gemalt. Ich dachte gleich: Das hat ein tüchtiger Schüler gemacht. Auch die Hand, die den dünnen Stiel des Rades umfaßte, war neu gezeichnet und anatomisch richtig. Einen Moment lang überlegte ich, ob ich das unbewußt selbst gemalt hatte, und ob ich so verwirrt war, daß ich das nicht mehr wußte?

Ich fragte mehrmals die ganze Klasse, wer dieses Windrad gemalt habe und versprach sogar eine Belohnung, weil es richtig und gut dargestellt war und mir gefiel. Ich betrachtete die Schüler und sah in ihren Augen, daß keiner von ihnen dieses spielerische Friedenszeichen gezeichnet haben konnte.

Ich wußte, daß ich dieses Symbol wegwischen mußte, und nahm dafür den Tafellappen. Das Gemalte war noch frisch und ließ sich leicht entfernen.

Nach vielen Jahren erhielt ich Besuch von einem älteren Herrn aus Eckernförde. Er hieß Hinrich Lausen und war bei der Finanzbehörde tätig. Er sagte, er könne sich noch an das Windrad auf dem Kriegsbild erinnern, und ob ich nun wisse, wie es auf das Bild gekommen sei.

Ich fragte erstaunt: „Daran können Sie sich noch erinnern? Waren Sie das etwa?“

„Nein“, sagte er, „ich war in der Klasse immer einer der Schlechtesten im Malen.“

Mecke

Kapitän Mecke war da, ich erfuhr es auf der Ückernburg. Bei seiner Betrachtung des Bildes war ich nicht zugegen, aber ein großer Anhang von Offizieren. Der Kapitän soll nichts gesagt, sondern nur genickt haben. So wagten seine Offiziere auch nicht, etwas Positives oder Negatives zu äußern.

Von der Jungmannschule aus ging er in einer Art Triumphzug mitten über die Kieler Straße in Richtung Ückernburg. Ein kühler, kräftiger Wind ließ den langen, geöffneten Militärmantel wie zwei Flügel wehen. Sein Stolz, das Ritterkreuz an seinem Halse, war nun von allen deutlich zu sehen.

Seine stolze Freude wurde getrübt durch den Befehl, in geheimer Mission an die Ostfront in einen der baltischen Staaten zu reisen, um Pläne des Oberkommandos zu verwirklichen. Dort wurde er von den Russen gefangengenommen.

Als ich davon hörte, dachte ich an das vorweggenommene Jubel- und Siegesfest auf der Ückernburg, als der Krieg mit Rußland begann.

Nach seiner Entlassung aus der russischen Gefangenschaft besuchte Mecke mich in Groß Wittensee. Obwohl er mit zu meinen Schutzengeln gehörte und kein Nazi war, kam ein richtig freundschaftlicher Kontakt, den ich wohl gewollt hätte, nicht zustande. Sein Wesen ließ dies nicht zu.

Damals nahm ich einen Behälter mit Aceton und goß den Inhalt auf die große Bildplatte. Der kämpfende Soldat und das Kampfgewühl mit der brennenden Stadt und den Schiffen im Hintergrund begannen sich sofort aufzulösen. Es entstanden große Farbplacken wie Inseln, die sich auf der Acetonbrühe drehten und bewegten wie auf einem Meer, wo bei einer neuen Schöpfung neue Welten entstehen.

Ich glaubte, die alten Grenzen Deutschlands zu erkennen. Die lösten sich aber weiter auf, und es entstanden neue und kleinere Gebilde wie auf einer neuen Landkarte. Ich sah fasziniert auf die Metamorphosen.

Ich ahnte, daß ich und das Bild betrachtet wurden. Ich wollte meinen Blick nicht erheben, tat es aber nach einiger Zeit doch. Da standen Harald Quedenfeld und sein Freund Willi Schürmann-Horster wie in einer phosphoreszierenden, schimmernden Lichtsäule.

Harald hatte beide Hände, mit den Handflächen zu mir gewandt, in Schulterhöhe gehoben wie zu einer frommen Gebärde. Willi Schürmann-Horsters Kopf schwebte ein kleines Stück über seinen Schultern – wie zum Zeichen seiner Hinrichtung. Seine schauspielerischen Bewegungen, die er früher hatte, waren wie bei einer Statue erstarrt.

Da standen nun meine beiden Freunde – und das im Zeichensaal der Jungmannschule in Eckernförde. Ich spürte, welche Kraft von ihnen ausging, die Schicksale der Lebenden zu lenken. Gleichzeitig sah ich in Gedanken die vielen zu Unrecht Geköpften, Ermordeten, Gequälten und Verbrannten. Ich wußte, daß sie die geheime Kraft hatten, verbrecherisches Unrecht zu sühnen.

Ich sah weit zurück in die Vergangenheit der Menschheit, sah große Kulturen durch Kriege zerstört, sah, wie der Sand der Wüsten über alles hinwegwehte, es verdeckte, und wie alles Vergangenheit wurde – alle Kriege, alle Siege.

Carl Lambertz

Aus: Schmetterling, warum trägst Du Schwarz? Autobiographische Skizzen, 1993, S. 162-169.

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